Autorin

Die Toilettenfrau vom Platzhirsch

Einfach Am-Leben-sein

Die Sache mit Kurt Walter dauerte nicht lange. Uschi benötigt dafür genau zwei Sätze. Dann lächelt sie etwas verlegen, zieht ruhig an ihrer Zigarette: „Na ja, mein Leben ist ein Roman.“ Die kleine Frau sitzt im weißen Kittel in der Pachttoilette am PlatzHirsch und will nicht hadern mit der Welt. Sie ist 81 Jahre alt, fühlt sich gesund und weiß nicht, wann sie das letzte Mal beim Arzt war.

Im Februar ist ihre Schwester Ingeborg gestorben. Uschi hatte sie gefunden. Sie lag nackt neben ihrem Bett. Uschi rief den Arzt und dann den Bestatter, hat die Beerdigung und die Wohnungsauflösung besorgt. Das war sie ihrer Schwester schuldig. Ingeborg hatte ihr damals geholfen eine Wohnung und Arbeit zu finden, nachdem sie 1982 von Krefeld nach Berlin kam. Bei der Beerdigung war sie allein, den Pfarrer und den Urnenträger zur Seite. Vorher hatte sie gelbe Rosen vom Markt geholt. Später bekam sie von der Friedhofsverwaltung einen Schlüssel für das kleine Häuschen mit dem Wandfach, damit sie die Schwester besuchen und ihr frische Blumen bringen kann.

Uschi wurde 1925 in Niederlehne, einem Dorf bei Königs Wusterhausen, als zweite von drei Schwestern geboren. Sie ging acht Jahre zur Schule, arbeitete dann bei einem Bauern nahe Storkow und war während des Krieges im Fliegerhorst Rangsdorf beschäftigt. Dort lernte sie Kurt Walter kennen. Am 30. März 1945 brachte Uschi ihre Tochter Songard zur Welt, da war es mit Kurt Walter schon wieder aus. Sie zog mit „Soni“ zur Mutter. Das kleine Mädchen mit den großen dunklen Augen war der Liebling der Familie und wurde von der Schwester Ingeborg geradezu vergöttert.

Die zwanzigjährige Uschi versuchte die verlorenen Jahre nachzuholen. Natürlich in Berlin: In „Klärchens Ballhaus“ und im „Lokal Schuster“, wo sie Gerd Jäkel kennen lernte. Sie heirateten und zogen in die Choriner Straße – Hinterhof, 1 ½  Zimmer, mit Küche und Toilette, für 37,25 Mark Miete. Uschi suchte sich Arbeit im Elektrowerk J. W. Stalin. Zwei Jahre fegte sie den Hof, Sommers wie Winters. Am Ende der Woche wurde der Lohn ausgezahlt, später alle 14 Tage und dann monatlich. Da stand sie schon an den Kompressoren und arbeitete in zwei Schichten. Nach zwei weiteren Jahren kam Uschi zur Heizung. Vier große Niederdampfkessel musste sie nun bedienen – im Dreischichtsystem. Uschi zog auch Asche. Sie war ein Arbeitstier: „Bei mir musste immer alles schnell und sofort gehen. Wenn ich dann so eine Suse neben mir hatte, bin ich verrückt geworden.“

29 Jahre war sie dabei. 1979 wurde Gerd Jäkel Frührentner und kehrte von einem Besuch in den Westen nicht zurück. Uschi ließ sich überreden und stellte einen Ausreiseantrag. „Das war die größte Dummheit meine Lebens!“ sagt sie heute. Sie folgte ihrem Mann nach Krefeld und bekam Heimweh, kaum dass sie dort angekommen war. Also machte sie kehrt und fuhr zu ihrer Schwester Ingeborg nach Berlin-Schöneberg. Gemeinsam suchten sie eine Wohnung in der Nachbarschaft und nach Arbeit. Da stand die Annonce von der Kohlegroßhandlung in der Zeitung. Mit Kohlen kannte Uschi sich aus, also bewarb sie sich bei der Firma Stepprath in der Crellestraße. Sie bekam den Job und verkaufte fortan Kohlen – den Sack für 7 DM und jeden ½ Zentner Packkohle für 10 DM. Von Gerd Jäckel ließ sie sich scheiden.

Acht Jahre arbeitete sie bei Stepprath – sie war längst Rentnerin und wäre gerne noch länger geblieben. Aber die Kohlehandlung zog nach Kreuzberg und soweit wollte Uschi nicht mehr fahren. Sie pausierte, bis sich eines Tages ein ehemaliger Kunde bei ihr meldete, „der war auf Toiletten“. Uschi ließ sich wieder überreden und arbeitete nun auf den Toiletten bei Wertheim in der Schlossstraße. Neun Jahre hielt sie die stillen Örtchen sauber und verdiente sich etwas zur Rente dazu. Dann wechselte sie zu den Pachttoiletten ins Karstadt, saß als nächstes in den Gropiuspassagen und dann für ein paar Monate in den Arkaden am Potsdamer Platz. Doch nach insgesamt 14 Jahren „auf Toiletten“ hatte Uschi keine Lust mehr. Dienst in zwei Schichten, morgens fünf Uhr raus – das war ihr mit 78 Jahren zuviel. Sie pausierte erneut. Sechs Monate später rief ein ehemaliger Kollege an: „Ich sitze auf den Toiletten im Park Schöneberg“ – nur wenige Minuten von Uschis Wohnung in der Babelsberger Straße entfernt. Sie ging hin und blieb sofort.

Das war vor vier Jahren und Uschi sitzt heute noch in ihrer „Sommerlaube“. Die Toiletten neben dem renovierten Milchhäuschen gehören zum Bierlokal „PlatzHirsch“. Doch im Gegensatz zu dem idyllischen Pavillon aus den 20er Jahren präsentiert sich das WC-Gebäude mit seiner Edelstahlmöblierung vorwiegend steril und frostig. Mancher Gast glaubt sich hier viel eher in der Pathologie. Uschi bringt das Wort nie richtig über die Lippen und fängt nach der ersten Silbe einfach zu lachen an. Eine Blasenentzündung hat sie sich auch schon geholt. Deshalb sitzt Uschi oft vor der Tür – da kann sie Leute beobachten und Spatzen füttern und einfach frische Luft atmen. Viel Geld lässt sich sowieso nicht mehr verdienen. Seit es den Euro gibt, zahlen die Leute viel weniger oder gar nichts. Von den Tageseinnahmen kauft sich Uschi Zigaretten. „Ich komme auch mit wenig aus. Ich hab´ drei Paar Schuhe und wenn ein Paar kaputt geht, kauf ich mir ein neues. Dann hab´ ich wieder drei.“

Am 30. November wird Uschi 82 Jahre alt, doch ans Aufhören will sie nicht denken: „Bis 90 werd´ ich bleiben.“ Sie macht gerne „auf Toiletten“. Nur einen einzigen Tag wollte Uschi nicht mehr gehen. Das war am 15. September, als ihre Tochter Soni an Krebs gestorben ist. „Die Ingeborg hat sie nachgeholt, da bin ich mir sicher.“ (Stadtteilzeitung Schöneberg, Ausgabe Nr. 36 - November 2006)

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