Kuratorin

Der Künstler Rolf Wicker in Lelkendorf

Was Kunst kann? Dinge einfach ganz anders sehen.

Lelkendorf hat vier neue Beobachtungsstände, die unauffällig im Dorf aufgestellt sind und sich erst auf den zweiten Blick als begehbare Objekte mit überraschend anderen Bestimmungen erweisen. Der Künstler Rolf Wicker baute einen Holzstapel, eine Torwand, eine Anschlagstafel und ein Garagentor und nutzte sie doch nur zur Tarnung für geschützte Orte, die in ihrer Größe und spartanischen Innenausstattung ebenso an einen Beichtstuhl, eine Telefonzelle oder Sprecherkabine erinnern. Man kann sich – vergleichbar mit geschlossenen Hochsitzen – in diese getarnten Kabinen hineinsetzen und ist abgeschirmt von der Außenwelt.

Durch eingefügte Schlitze und Löcher lässt sich die Umgebung zudem unbeobachtet erkunden. In jedem Beobachtungsstand ist ein Buch ausgelegt, in dem verschiedene Statements oder Sprüche zu lesen sind, die Rolf Wicker während seiner Rundgänge, Besuche und Gespräche im Dorf über die Monate notiert hatte.

Die vier „Beobachtungsstände“ des Künstlers sind an wichtigen Orten im Dorf auf- und ausgestellt. Der Holzstapel steht an der zentralen Kreuzung zum Schloss, gleich neben dem sanierten ehemaligen Kreisbetrieb, heute vom Kulturförderverein genutzt. Die Torwand befindet sich am Rand vom Fußballplatz der Gemeinde. Die Anschlagstafel hat momentan ihren Platz auf einem unbebauten, brachliegenden Grundstück gefunden. Das Garagentor bildet das letzte Glied einer langen Garagenzeile, direkt gegenüber von einem alten Neubau aus den 1960er Jahren. Durch die Anwesenheit der getarnten Treffpunkte entstehen an scheinbar gewöhnlichen Orten besondere Ereignissen. Nicht nur der Innenraum der Objekte, sondern auch die Umgebung wird neu wahrgenommen, obwohl sich auf den ersten Blick nichts verändert hat.

Ein Pförtnerhaus wird Kunsthalle

Während seines Aufenthaltes in der Gemeinde erweiterte Rolf Wicker seine künstlerische Arbeit zusätzlich mit der Installation der TEMPORÄREN KUNSTHALLE LELKENDORF, in der fünf künstlerische Projekte verwirklicht wurden. Dafür baute er das ehemalige Pförtnerhäuschen des längst geschlossenen „Kreisbetriebes für Landtechnik” auf dem Schlossweg aus, ließ es vom Berliner Künstler Pfelder in eine überdimensionale Kiste für Kunsttransporte verpacken, von der Freiwilligen Feuerwehr von Lelkendorf wieder auspacken und lud die Künstler Rainer Ecke, Jan Ph. Scheibe, Jörg Schlinke, Katja Pudor, Leni Hoffmann und Matthäus Thoma ein, sich mit ihrer Arbeit auf die besondere Situation in der kleinsten Kunsthalle der Welt einzulassen.

Nach den Ausstellungseröffnungen stellen die Künstler zusätzlich in geselligen Gesprächsrunden im „Roten Salon“ weitere Werke aus ihrer bisherigen Arbeit vor. Die Erfolge der Kunsthalle waren nur möglich durch die aktive Beteiligung und Unterstützung der ganzen Gemeinde. Nach und nach fand sich ein aktiver Förderkreis der Kunsthalle zusammen, der eigene Buttons zur Werbung verkaufte, um später von dem Erlös eine Publikation finanzieren zu können. Auch Postkarten wurden verteilt und immer mehr Kunsthallenfreunde in der Region mobilisiert.

Spaß an ungewöhlichen Lösungen

Selten überzeugt Kunst im öffentlichen Raum so wie diese Arbeit von Rolf Wicker. Als Resultat seiner monatelangen Beobachtungen und Gespräche in Lelkendorf transformierte er seine Eindrücke in komplexe Gestalten, die sich in ihren Formen auf alltägliche Vorbilder beziehen. Rolf Wickers Arrangements sind eine Aufforderung zum Beobachten, zum genauen Hinsehen aus veränderter Perspektive. Die vier „Beobachtungsstände“ integrieren sich wie selbstverständlich ins Bild von Lelkendorf und wecken bei großen und kleinen Besuchern gleichermaßen Neugierde und Phantasie. Indem der Künstler in seinen „Bauwerken“ zum Verweilen einlädt, zum Lesen auffordert, auch Durchblicke oder Aussichten anbietet und den Betrachter als Mitspieler einbezieht, hat er nicht allein einen Körper mit Innenraum in das Dorf gesetzt, sondern die Perspektive umgedreht und – mit Blick aus dem Körper heraus – das Dorf als Raum thematisiert.

Generell ist auch in Lelkendorf ein Rückgang der landwirtschaftlich tätigen Dorfbewohner zu beobachten. Das ideale Bild von einem intaktem ländlichen Lebensmodell ist empfindlich gestört – aufgrund der abnehmenden Anzahl bäuerlicher Betriebe, aber auch dem Fehlen von öffentlichen Räumen und gemeinsamen Inhalten, die das Gemeinschaftsgefühl prägen. Kunst kann das nicht ändern, aber sie kann zum Nachdenken anregen und dazu ermutigen, auch über ungewöhnliche Lösungen nachzudenken.  

Seit Jahren organisiert in Lelkendorf der Verein Kultur-Gut pro Region, heute Kulturförderverein (KfV), regelmäßig Kunst- und Kulturveranstaltungen. Vor drei Jahren gründete sich der Skulpturenpfad e.V., der siebzehn Skulpturen namhafter Künstler auf der Schlossanlage und im Dorf dauerhaft aufgestellt hat. Die Kunst musste also nicht nach Lelkendorf gebracht werden. Das Besondere und einzigartige des Kunstprojektes der Deutschen Stiftung Kulturlandschaft mit Rolf Wicker war, dass er auch diejenigen neugierig machte, die sich von der vermeintlich elitären Kunst ausgeschlossen fühlten. Rolf Wicker hat von Beginn an alle Menschen, die in diesem Ort leben, mit in seine Aktionen einbezogen und sie über den Humor und das Spiel an das herangeführt, was Kunst kann: den Verstand, die Phantasie, die Sinnlichkeit und das Gefühl in gleicher Weise zu beflügeln.

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